„Jux und Tollerei“

Die Sexualberatungsstelle Salzburg – ein psychoanalytisches Projekt.

Eva Breidenbach-Fronius, Ulrike Hutter, Michael Schreckeis

 

In Salzburg eine Sexualberatungsstelle zu gründen, zu betreiben und sie auch genauso zu nennen, war 1986 zugleich Wagnis und Ärgernis. Damals waren wir Österreichs einzige Einrichtung mit diesem Namen. Die Vorläuferinnen, in den 20er Jahren von Wilhelm Reich in Wien gegründet, wurden bereits im Austrofaschismus so gründlich liquidiert, daß selbst die Idee ausgerottet schien. Den radikal-aufklärerischen Gehalt der Psychoanalyse wieder mit sexualpolitischem Engagement in Verbindung zu bringen, erschien uns in Österreich, insbesonders in der klerikal-konservativen Kleinstadt Salzburg besonders dringlich und spannend. Der Name Sexualberatungsstelle war aus mehreren Gründen schon von Beginn an problematisch. Eine solche Einrichtung durch die öffentliche Hand, durch öffentliche Gelder subventionieren zu wollen, brachte  schnell die Vorurteile einer konservativ-katholischen Regierungsmehrheit ans Tageslicht. Unsere Arbeit wurde vorwiegend mit Schlüpfrigkeit, mit perversen Sexualpraktiken oder mit Abtreibung in Verbindung gebracht.

Neben politischen sahen wir auch andere Schwierigkeiten mit unserem Namen – eine unerwünschte Zuordnung zu verhaltenstherapeutischen, symptomorientierten Konzepten in der Behandlung von Sexualstörungen. Der Name „Sexualberatungsstelle“ suggeriert, daß es eine zu behandelnde Sexualität gibt, die auf eine Symptomatik reduziert werden kann. Dieser Schwierigkeit begegnen wir tatsächlich häufig in der konkreten Beratungssituation, wenn der/die Betroffene die Entfernung eines unerwünschten Symptoms von uns erwartet.

Die Beratungsstelle sollte zu Beginn sexualpolitisch wirksam sein und gleichzeitig Hilfe für die Einzelnen bieten. Diese Gewichtung wandelte sich im Lauf der Jahre immer wieder und verschob sich hin zu einer größeren Konzentration auf die therapeutische Arbeit.

Sexualpolitik findet heute ein anderes Umfeld vor als noch zu Wilhelm Reichs Zeiten. In der Medien- und Modezivilisation herrscht ein atmosphärisches Gemisch aus Kosmetik, Pornographie, Konsumismus, Illusion, Sucht und Prostitution. In der Warenwelt scheint nichts mehr ohne Sexualität zu gehen. Sie ist zum „Universalornament“ der Marktwirtschaft geworden (Sloterdijk 1983, S.280)3. In diesem Klima wird Aufklärung zu einem medialen Faktor. Von der Jugendzeitschrift bis zur Fernsehsendung, vom Pfarrer bis zur Schule – alle machen es. Die Schwierigkeit liegt heute eher darin, zwischen Trieb, Hemmung und Begehren einen befriedigenden, individuellen Weg zu finden. Die durch die Medien erteilte Absolution zur Sexualität hinterläßt große Verunsicherung. So scheint es uns wichtig, durch die Möglichkeit von Beratung und Therapie der Sexualität wieder ein Stück Intimität zurückzugeben.

Im Namen Sexualberatungsstelle war und ist der Anspruch enthalten, das Sexuelle als wesentliche Konstante der Persönlichkeit zu sehen – ein zentraler Bestandteil menschlicher Lebensäußerungen, egal in welchem Alter und in welcher Form. Die Unterscheidung zwischen dem Sexuellen, der noch formlosen Triebkraft und der manifesten Sexualität sehen wir als ein bedeutendes Theorem für unsere Arbeit. Für die Behandlung von sexuellen Funktionsstörungen heißt das, daß wir unseren Blick weg von den funktionalen Abläufen wenden, hin zu dem, was das Sexuelle im Klienten und unserer Interaktion mit ihm an Spannung und Bewegung zeigt. Der Fokus richtet sich also nicht auf die schnellstmögliche Beseitigung des Symptoms, sondern auf den Prozeß des Verstehens und Integrierens des jeweilig individuellen Triebgeschehens und der damit verbundenen Abwehr. Das Sexuelle wird in der Psychoanalyse als konflikthaftes Geschehen begriffen - entgegen vieler Konzepte, die Störungen des sexuellen Erlebens nur als Antwort auf hemmende oder krankmachende Erziehung und Umwelt sehen.

Der Name Sexualberatungsstelle ist geblieben, er hat überdauert. Nach langen Bemühungen wurden wir 1989 als Familienberatungsstelle anerkannt. Die Subventionspolitik ist, dies sei am Rande erwähnt, immer eine Frage politischer Mehrheitsverhältnisse und der damit verbundenen Gesundheitspolitik. Sexualität scheint kein Liebkind konservativer Parteien zu sein. Die Berechtigung, sich mit diesem zentralen Lebensthema zu befassen, wird meist erst dann gesehen, wenn Sexualität mit Gewalt gepaart ans Licht der Öffentlichkeit tritt. Ansonsten ist Beratung und Therapie im Bereich der Sexualität „Jux und Tollerei“, so der Salzburger Bürgermeister in einem Subventionsgespräch. Es sei nicht zu verantworten, meinte er, in Zeiten, in denen an allen Ecken und Enden gespart werden müsse, in diesen Bereich zu investieren.

Ganz anders verhielt es sich seit der Gründung der Beratungsstelle mit der Inanspruchnahme durch die Bevölkerung. Das Beratungs- und Therapieangebot wurde von Menschen aus allen Schichten und Altersgruppen immer selbstverständlich genutzt. Sehr wesentlich in diesem Kontext ist der ökonomische Faktor. Wir haben die Praxis von psychoanalytischer Beratung und Therapie so organisiert, daß sie auch für sozial Benachteiligte zugänglich und finanzierbar ist.

Die Arbeitsweise an der Sexualberatungsstelle Salzburg, die in der klinischen Arbeit auch den gesellschaftspolitischen Ort mitreflektiert, entspricht einer Tradition, die in den 80er Jahren in der Werkstatt für Gesellschafts- und Psychoanalyse entstanden war. Die Lehrtätigkeit des Universitätsprofessors und Psychoanalytikers Igor A. Caruso an der Universität Salzburg prägte mehrere StudentInnengenerationen, und damit auch die psychosoziale Szene dieser Stadt. Das anregende Klima des forschenden Interesses an kulturkritischer Psychoanalyse war der Nährboden für die Sexualberatungsstelle. Aus dem Engagement um die Nachfolge Carusos am psychologischen Institut kam es zur Gründung des außeruniversitären Vereins Werkstatt für Gesellschafts- und Psychoanalyse (vgl. Institutsgruppe Psychologie, 19841). Hier sollten die Fundamente der Freudschen Psychoanalyse – Libidotheorie und Kulturkritik – in selbstorganisiertem psychoanalytischem Forschen und Lernen weitergeführt und später auch noch eine klinische Ausbildung ermöglicht werden. Diese „Werkstatt“ bildete für die Gruppe von PsychologieabsolventInnen, die das Projekt Sexualberatungsstelle in Angriff nahm, den intellektuellen und organisatorischen Rahmen. Kritik und Ablehnung kamen aber auch aus den eigenen Reihen. „Therapeutismus“, „Psychoboom“ und „Geschäftemacherei“  waren Schlagworte gegen unsere klinische Arbeit.

Aus dieser Auseinandersetzung blieb der Anspruch, daß Behandlungstechnik immer auch den gesellschaftlichen Hintergrund der Symptomatik des Einzelnen miteinbezieht. So zeigt der schwierige Prozeß, der für eine Frau zu einer Abtreibung führt, einige dieser Aspekte auf. Es gibt das individuelle Leiden am Schwangerschaftsabbruch, Trauer, Ängste und Schuldgefühle. Aber dieses persönliche Geschehen hängt von umgebenden Einflüssen ab. Die gesellschaftliche Werthaltung, die ethische Haltung der Ärzte, der Familie, des Mannes können die individuellen Faktoren wesentlich verschärfen oder entschärfen. Abtreibungsgegner vor den Toren einer Abtreibungsklinik, Anschläge auf Abtreibungen durchführende ÄrztInnen – diese Szenarien verstärken den innerpsychischen Druck auf die betroffenen Frauen. Sich hier nur auf das klinische Verständnis der inneren Prozesse zu beschränken, hieße sowohl menschlich unangemessen zu reagieren als auch technische Behandlungsfehler zu machen.

Psychoanalytisches Denken und Arbeiten im Rahmen einer Institution ist unseren Erfahrungen nach in einem konfliktorientierten Kollektiv ohne Leitung am besten aufgehoben. Arbeitsbereiche, die über die therapeutische Arbeit hinausgehen, werden von uns nach Interesse und speziellen Fähigkeiten aufgenommen und erledigt. Durch den ständigen Austausch im Team bildet sich eine dynamische Arbeitskultur. Einzelne Arbeitsbereiche bleiben damit nicht nur Einzelqualifikationen, sondern werden durch die diskursive Rückbindung zur ständigen Fortbildung aller Teammitglieder und zu einem wachsenden Kompetenzbereich des gesamten Teams. Es ergeben sich dadurch immer wieder wechselnde sachbezogene Hierarchien. Gleichzeitig bleibt der Anspruch einer formal nicht-hierarchischen Teamstruktur erhalten. Konflikte als Produkt dieses Arbeitsstils benötigen supervisorisches Bearbeiten und immer wieder psychodynamisch reflektierte Teambeziehungen. Unsere Arbeitsweise braucht eine transparente Minimalstruktur und eine größtmögliche Produktionsfreiheit, die in formal hierarchisierten Arbeitsverhältnissen schwer denkbar ist. Eine kollektive Form psychoanalytischer Praxis zu gestalten, die neben der klinischen Arbeit immer auch Weiterbildung und Forschung integriert wissen will, war ein zentrales Anliegen der Gründerjahre. Sie hat sich nach zehnjähriger Erfahrung noch um vieles professionalisiert.

Das Sprechen über Sexualität ist selbst Sexualität. Dies wird mitunter zu einem sehr eindringenden und bewegenden Geschehen für den/die AnalytikerIn. Um einer Immunisierung von anstrengenden, teilweise ängstigenden, die eigene Abwehr bedrohenden Aspekten zu entgehen, braucht es die Einbettung in ein Team, das sowohl psychoanalytische Technik in Form von Übertragungs- und Gegenübertragungsanalyse beherrscht, aber darüber hinaus auch Rückhalt, Verständnis und Stärkung bietet. Wider den momentanen Zeitgeist sehen wir Methodenvielfalt nicht als Bereicherung und arbeiten ausschließlich psychoanalytisch.

Zu den häufigsten Problemfeldern, mit denen wir zu tun haben, gehören Störungen der sexuellen Lust, bzw. der sexuellen Begegnung innerhalb von heterosexuellen, aber auch homosexuellen Beziehungen. Das wesentliche Moment für sogenannte funktionelle Sexualstörungen wie Lustlosigkeit, Orgasmusstörungen oder erektile Dysfunktionen sehen wir in der neurotischen Gebundenheit an primäre Liebesobjekte und den damit verbundenen Verboten, die den Bereich der sexuellen Phantasie beschneiden und verunmöglichen. Unsere therapeutische Arbeit begibt sich, wie die klassische Psychoanalyse auf die Spuren dieser Bindungen und Erinnerungen.

Ausgangspunkte dafür sind sexuelle Symptome, die an psychosomatische Krankheitsbilder erinnern. Viele unserer PatientInnen sind auf dieses Symptom fixiert. Die dahinterliegende Lebensproblematik und das Triebgeschehen bleiben scheinbar verborgen und damit schwer deutbar.

Ob es zum Wiederholen und Durcharbeiten kommt, ist an unserer Beratungsstelle mit größeren Unsicherheiten verbunden als in der psychoanalytischen Privatpraxis. Zu uns kommen Menschen mit Motiven, die häufig "delegierte" sind. Ein Mann schickt seine Partnerin, ein Mediziner schickt einen Patienten, die Mutter schickt die Tochter, Richter schicken Straffällige. Für uns liegt deshalb viel Arbeit im Vorfeld von eigentlicher Therapie.

Dabei gehört es zu unserer Aufgabe, eine Verbindung von auferlegten Motiven zum innerpsychischen Leiden herzustellen. PatientInnen ist dieser auf den ersten Blick nicht bewußt, nicht spürbar. In diesem „Vorspiel“ von Therapie liegt die Kunst darin, ob der Leidensdruck im Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen soweit lebendig werden kann, daß er eine länger dauernde therapeutische Arbeit motiviert.

Entsteht zu schnell eine Übertragungsheilung im Sinne einer zeitweiligen Symptomfreiheit, kann es zu Therapieabbrüchen kommen, die besonders für die PatientInnen nicht als solche erkennbar sind. Auch das Gegenteil, eine zu lange andauernde Unbeweglichkeit der Symptome, ist belastend für die psychoanalytische Arbeit.

Die wachsende Zahl der Anzeigen von sexuellem Mißbrauch, Exhibitionismus, Vergewaltigung oder sexueller Nötigung bringt neue Aufgabenfelder für unsere Beratungsstelle. Damit befaßte Behörden agieren ihre Unsicherheit mit einem Gemisch aus psychologischem Verständnis und dem Wissen um die offensichtliche Nutzlosigkeit der gängigen Strafverfahren bei diesen Delikten. Psychotherapie, so die steigende Tendenz, sei die „goldene“ Lösung. Den StraftäterInnen fehlt jedoch häufig die Einsicht, daß die Straftat aus innerpsychischen Problemen resultiert. Wegen der hohen Erwartungen der Gesellschaft und der befaßten Instanzen sind solche Delegationen eher schwierig. Psychotherapie ist nicht für jedes gesellschaftliche Problem die Lösung.

Natürlich ist die zentrale Frage in unserer Arbeit die der Geschlechtsidentität. Sie zeigt sich nicht nur in den immer öfter vorgetragenen Wünschen nach Geschlechtsumwandlung, sondern ebenso in anderen Symptomen. In der Fachliteratur, aber auch populärwissenschaftlich wird diskutiert: Haben wir eine schwächere, eine gestörte Geschlechtsidentität? Bringen die veränderten sozialen Rollen der Geschlechter auch die geschlechtliche Identität ins Wanken? Sind Transsexuelle „die letzten echten Männer und Frauen“, wie dies Sophinette Becker in ihrem Artikel andeutet?

Identität ist der Prozeß einer dialektischen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen biologischer Gegebenheit und sozialen Rollen. „Geschlechtsidentität kann nicht getrennt von der Ichidentität betrachtet werden. In einer wechselwirkenden Interaktion zwischen Subjekt und Objekt werden die begleitenden Affekte der Beziehung introjiziert, was eine Umwandlung und Strukturierung von einem Dynamismus im Subjekt bewirkt und dieses als solches in seiner Einmaligkeit definiert. So, wie die Identifikation strukturierend wirkt, kann sie gleichzeitig aber auch die Gefahr der Entfremdung mit sich bringen.“ (Tanco-Duque, 1997, S.1)4.

In einer Zeit, in der die sozialen Rollen sich rasant verändert haben, Begriffe wie männlich/weiblich" aus ihrer jahrhundertealten Polarisierung genommen werden, kann die Theorie der sogenannten biologischen Gegebenheit nicht unberührt davon bleiben. Sexuelle Identität wurzelt in der Entwicklung der Sexualität aber auch in den Beziehungen und Rollenzuschreibungen, die dem Kind angeboten werden. Die angeführte Entfremdung drückt sich dann in den unterschiedlichsten Symptomen aus, die psychisches Leiden nach außen sichtbar machen.

Hier zeigt sich vielleicht am deutlichsten, daß therapeutische Arbeit ein Gesellschafts- und Menschenbild als expliziten theoretischen Unterbau benötigt. Welche wissenschaftspolitischen Positionen zum Verhältnis der Geschlechter, zu Fragen der Geschlechtsidentität, zur Homosexualität, zur Abtreibung oder zur künstlichen Befruchtung finden sich in der Behandlungstheorie? Diese Auseinandersetzung ist notwendig, damit die therapeutische Arbeit nicht zu einem Selbstverwirklichungstraining wird. Psychotherapie soll nicht zu einer Art Schnellservice für Psychodefekte verkommen. So werden gesellschaftliche Widersprüche, deren pathogene Wirkung auf die menschliche Psyche ausgeblendet bleiben, ins Subjekt hinein verlegt.

Am Ende unserer „Geschichte über die Sexualberatungsstelle“ kommen wir noch auf einen trieblichen Aspekt unserer Arbeit zurück - das Engagement. Ein gewisses „getrieben sein“, Neugierde, Interesse, Aggressionen bilden die „Lust“ an unserer Arbeit. Dem Phänomen des Engagements begegnet man heute eher mit einer Mischung aus Anerkennung und Nachsicht, als wäre es eine Mischung aus längst vergangener Zeit (vgl. Sloterdijk 1983, S.181)3.

Engagement bedeutet in unserem Kontext keinen „blinden Heilsauftrag“, sondern im klinischen und theoretischen Bereich die Rückkehr der Phantasie zu ermöglichen, und damit auch eine erotische Kultur der Leidenschaft und Aggression zu etablieren. In diesem Sinn schließen wir mit Nietzsche: „Der Einwand, der Seitensprung, das fröhliche Mißtrauen, die Spottlust sind Zeichen der Gesundheit: alles Unbedingte gehört in die Pathologie.“ (Nietzsche 1980, S. 202)2.

Literatur:

  1. Institutsgruppe Psychologie der Universität Salzburg (Hg.) (1984): Jenseits der Couch. Psychoanalyse und Sozialkritik. Frankfurt/M.
  2. Nietzsche, Friedrich (1980): Jenseits von Gut und Böse. 4. Hauptstück. Wien.
  3. Sloterdijk, Peter (1983): Kritik der zynischen Vernunft. Band I. Frankfurt a.M.
  4. Tanco-Duque, Rosa (1997): Geschlechtsidentität und soziale Rolle. Vortrag bei der Österr. Studiengesellschaft für Kinderpsychoanalyse.