Historische und andere Überlegungen darüber, was wir in Salzburg am Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts tun…
von Bernhard Handlbauer
Seit fünf Jahren beschäftigen wir uns professionell mit Sexualität, bieten in der Stadt Salzburg eine Sexualberatungsstelle an und betreiben – zumindest von außen betrachtet – Sexualität (auch wenn wir der Ansicht sind, daß es eine reduzierte Sexualität nicht gibt). Gründe genug, einen Blick in die Geschichte und das gesellschaftliche Umfeld dessen zu werfen, was hier – forschend, beratend, therapierend – getan wird.
Sexualitäten
Das Wort Sexualität gibt es als Substantiv erst seit wenig mehr als 100 Jahren und es betrieb Kahlschlag in einer Wortlandschaft, die erfindungsreicher und bunter viele Bezeichnungen für das aufwies, was heute unter diese große, etwas sterile Klammer fällt.
„Sexualithäät“ – wie gelangweiltes Gähnen kann dieses Wort klingen, das etwas potentiell Lebendiges, Buntscheckiges, Widersprüchliches und Subversives dingfest macht.
Der Schweizer Psychoanalytiker Fritz Morgenthaler1 hat den Begriff des „Sexuellen“ als Bezeichnung für das Ursprüngliche, das triebhaft Bewegte eingeführt – im Gegensatz zu seiner manifesten, abgerichteten, oft in Ritual und Konvention erstickten Erscheinungsform, der „Sexualität“. Einen Mystifizierungsversuch sehen Kritiker wiederum in der Postulierung dieses schlüpfrigen, strukturlosen „Sexuellen“, das man begrifflich nicht zu fassen kriegt, aber – zugegebenerweise – um einiges dynamischer, bewegter daherschwimmt, schaukelnd, wie eine Welle.
Nun denn, Sexualität also, damit alle verstehen, was gemeint ist, was schon der erste Irrtum ist: Mit Sicherheit ist anzunehmen, daß jeder Mann und jede Frau jeweils individuell sehr unterschiedliche Bilder assoziiert und produziert, wenn dieser Begriff auftaucht.
(…wie weiterschreiben, ohne in peinliches wissenschaftliches Dozieren oder das Palaver des gesunden Menschenverstandes zu verfallen… eine Gratwanderung…)
Sexualität als Erlebnis- und Gefühlsqualität wird landläufig als zutiefst privates, subjektives und intimes Geschehen verstanden. Mann/frau setzt sie in Beziehung mit der eigenen Persönlichkeit, der eigenen Geschichte, mit den Partnern, die sie wachrufen und befriedigen oder frustrieren. Gunter Schmidt2 hat anschaulich dargestellt, wiesehr die Sexualität der Menschen durch ihre Lebensform, durch die Normen und Strukturen der sie umgebenden Gesellschaft determiniert ist. Vieles, was als zutiefst subjektives Sehnen und Begehren erlebt wird, trägt den Stempel der umgebenden Kultur.
Ein Blick zurück
Am Beginn der Neuzeit war Sexualität eine Sache unter vielen. Es wurde kein großes Tamtam darum gemacht, weder wurde das Sinnliche besonders betont, noch bagatellisiert. Es war Bestandteil eines grellen, bunten und lauten Lebens, in dem die Körperlichkeit weniger stark durch innere Instanzen reglementiert war als heute. Ehe, Liebe (Minne), Leidenschaft, Fortpflanzung, Ausschweifung usw. durften nebeneinander existieren und niemand kam auf die Idee, das alles müßte in einem einzigen Gegenüber aufgehen können. Hier soll nicht einer "guten alten Zeit" das Wort geredet werden, denn von Schrecken, Nöten und Grausamkeiten war dieses Leben allemal durchzogen – hier soll auf die Verschiedenheit der Ausgestaltung der Sexualität damals und heute mit Nachdruck hingewiesen werden.
Das moderne Liebesideal, daß Ehe und Liebe zusammengehören, ist etwas historisch völlig Neues und Einzigartiges. Es entstand vor etwas mehr als 100 Jahren in der Folge der gewaltigen gesellschaftlichen Veränderungen, die neue Produktionsformen mit sich brachten.
Bei den Romantikern etwa, in der Literatur (Die Leiden des jungen Werthers) und in den Opern jener Zeit finden sich die Belege, wie sich die großen gesellschaftlichen Umwälzungen in neu sich gestaltenden Psychostrukturen niederschlugen. Das Ideal der Gattenliebe entstand. Die Liebesheirat begann der bis dahin nicht in Frage gestellten Vernunft- und Geldheirat Terrain abzugewinnen.
Mit dem Auseinanderbrechen der alten Produktionsformen, dem Zerfall der Haus-Familie, der Verstädterung, der Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz, dem Herauskristallisieren der Kleinfamilie als neuer Lebensform usw. ging eine tiefgreifende Veränderung der Charakter- (Abwehr-, Psycho-) struktur der Menschen Hand in Hand.
Schmidt nennt „Häuslichkeit“, „Romantische Gattenwahl“, “Gattenliebe„ und „Elternliebe“ als jene neuen Gefühls- und Verhaltensqualitäten, die im Laufe des 19. Jahrhunderts erfunden und ausgebildet wurden: zuerst im Bürgertum, im Laufe dieses Jahrhunderts auch im sich ökonomisch emanzipierenden Proletariat.
Heute, kaum 150 Jahre nach dem Beginn dieser großen Veränderungen herrscht die Alltagsmeinung vor, so wie es ist sei es schon immer gewesen und empfunden worden. Ein Irrtum, der viele Bereiche umfaßt: entdeckt, erfunden und zubereitet wurden damals nicht nur Gattenliebe und Liebesheirat, sondern auch: „die“ Kindheit, das Individuum, die Psychologie, vorbereitend auf das, was erst in diesem Jahrhundert formuliert werden konnte: die Selbstverwirklichung…
Die Kleinfamilie, die sich den neuen, kälteren Lebens- und Produktionsformen (z.B. der geforderten höheren Mobilität) geschmeidiger anpassen konnte, brachte eine Erwärmung des internen Familienklimas mit sich. Kinder und Gatten waren nicht mehr austauschbar und ersetzbar, sondern erhielten ihre Einzigartigkeit und Individualität zugesprochen.
Nun tanzten und trampelten nicht mehr die bunten Gesellschaften des Mittelalters durch die sich strukturierende Psyche des Kindes und hinterließen ihre grellen und austauschbaren Eindrücke, sondern vor allem Mama und Papa prägten das sich konstituierende Ich. Das erwärmte Klima in der Kleinfamilie führte freilich auch zum Treibhauseffekt für die Neurosen. Die Zeit war reif für Freud, einem Wissenschaftler, der romantische Ideale durch die Gesetze der exakten Naturwissenschaften erforschen und legitimieren wollte und der mit dem Ödipuskomplex ein Bild für die gefährlichen Klippen dieses Kleinfamilientreibhauses schuf. Die Einhaltung der Inzestschranke, die am Beginn jeder menschlicher Kultur stand, war in diesem abgeschirmten und erwärmten Klima in Gefahr gekommen. Drohende emotionale und sexuelle Übergriffe erforderten stärkere Verdrängungsleistungen, die wiederum einen fruchtbaren Boden für Neurosen abgaben.
Im Eilzug durch das 20. Jahrhundert
Sexualberatung explizit tritt uns erstmals in der Zwischenkriegszeit in den großen Städten entgegen. Die eher aus der Arbeiterbewegung entstandenen Beratungszentren hatten Fragen zur Verhütung, zur Abtreibung, zu Geschlechtskrankheiten – also primär Geburtenregelung und Sexualmedizin zum Gegenstand.
Bürgerlich-fortschrittliche Sexualberatung bestand in der Forderung, daß eine erfüllt Sexualität notwendig für den Bestand einer erfüllten Ehe sei. Als Beispiel sei auf das Buch des holländischen Sexualreformers Van de Velde, Die vollkommene Ehe verwiesen, das um 1930 ungewohnt freizügig und nüchtern Sexualpraktiken, Stellungen und Techniken den geneigten Lesern anbot und große Kontroversen auslöste.
Der Nationalsozialismus unterbrach diese Entwicklung. Sexualität sollte im Tausendjährigen Reich wieder stärker der Menschenproduktion dienen und weniger der privaten, ehelichen Lust. Die Pflicht zur Kinderproduktion für die Ausbreitung der Herrenrasse rückte in den Vordergrund.
Was nach 1945 aus einer zusammengebrochenen Gesellschaft und Moral hervortrat, zeigte sich vorerst – zumindest offiziell – bigott und moralisch. Der kalte Krieg machte sich auch in den Ehebetten breit und es bedurfte einiger Anstrengungen und Anregungen – Twist, Elvis und Rock'n Roll als Stichwort – um die Sache wieder in Schwung zu bringen.
So richtig heiß herumexperimentiert wurde aber erst ab 1968. Nun kam es wieder zu einem historisch neuen Credo, das in den Jahrzehnten davor nur in den „wilden Ehen“ einiger weniger Künstler, Dadaisten und Erziehungsreformer gelebt wurde. Verkündet wurde nun, daß erfüllte Sexualität wichtig sei für die erfüllte Liebesbeziehung oder Partnerschaft – ob ehelich, vorehelich, bürgerlich oder „wild“.
Sexperten I: Sexualforscher
Die Kinsey-Reporte3 haben die Veränderungen des Sexuallebens ab der Mitte des 20. Jahrhunderts beschrieben und beeinflußt. Anhand von ausführlichen Interviews mit tausenden weißen Männern und Frauen sollte streng wissenschaftlich die Veränderung im Sexualverhalten erforscht werden. Kinsey, der mit seinen Mitarbeitern an der Indiana University zwischen 1938 und 1948 forschte, gab folgende Ursachen für das gewandelte Verhalten an:
- die fortschreitende ökonomische und sexuelle Emanzipation der Frau (Frauen fanden also Möglichkeiten, ihre sexuellen Wünsche zu leben und einzufordern, während sie sie ein Jahrhundert davor aufgrund der rigorosen Konventionen bestenfalls im großen hysterischen Anfall zum Ausdruck bringen konnten).
- die Forschungsergebnisse Sigmund Freuds (sie kamen in Amerika pragmatisch formuliert und entstellt als neue Leistungsnormen unter’s prüde Volk).
- die Begegnungen mit anderen Völkern als Folge der Weltkriege (die GIs brachten also neue Erfahrungen mit nach Hause).
Während großangelegte Forschungsberichte mit Vorliebe in ministeriellen Schubladen und abgelegenen Universitätsarchiven verstauben, entwickelten sich die Kinsey-Reporte in Kürze zu einem Verkaufshit. Eine Welle der Erleichterung ging durch die amerikanische und später auch westeuropäische Öffentlichkeit: das was unter enormen Schuldgefühlen immer wieder praktiziert wurde, ob Onanie, vorehelicher Geschlechtsverkehr, Petting, Oralverkehr, homosexuelle oder „noch perversere“ Praktiken und Vorlieben (wie anregend knistern die 50er Jahre in die große Lustlosigkeit der pornogeschwängerten 90er herüber!) war gar nicht so abnormal: schwarz auf weiß stand zu lesen, wer was wie oft mit wem und wie tut, phantasiert oder nicht tut: und das mit genauen Prozentangaben, an denen es nichts zu Rütteln gab.
Die Kinsey-Reporte führt Schmidt als Musterbeispiele für die Doppelgesichtigkeit moderner Sexualwissenschaft an: aufklärerisch-befreiend, da vor unangebrachten Ängsten und Hemmungen entlastend, aber auch normierend und auf eine ganz neue Art repressiv: denn nun stand fest, wie oft pro Woche Geschlechtsverkehr normal sei, wieviel Prozent der Burschen und Mädchen onanierten usw. Wer sich in diesen Normalverteilungen nicht wiederfand mochte sich fragen, ob mit seiner Sexualität etwas nicht stimmte.
Sexperten II: Orgas – MUSS – Forscher
Einen fragwürdigen Höhepunkt moderner Sexualforschung markierte das Buch Human Sexual Response (USA 1966; Deutsch: Die sexuelle Reaktion, 1967) der amerikanischen Autoren William Masters (ein Frauenarzt) und Virginia Johnson (eine Psychologin). Sie untersuchten unter experimentellen Laborbedingungen das orgastische Geschehen, indem sie Versuchspersonen masturbieren und koitieren ließen und sämtliche physiologischen Veränderungen (Puls, Atmung, Muskeltonus, Hautrötung, usw.) maßen und statistisch auswerteten. Seither weiß „man“, daß der Orgasmus bei Mann und Frau ähnlich, allerdings leicht verschoben, abläuft, daß einer „Erregungsphase“ eine „Plateauphase“ folgt, dieser die „Orgasmusphase“ und dieser wiederum die „Rückbildungsphase“. Das orgastische Geschehen wurde entmystifiziert. Man wußte nun, wie es sein sollte und konnte dazu übergehen, die Fehler und Störquellen zu eliminieren. Alles, was heute unter dem Handelsbegriff Sexualität zu haben ist, geht auf die von Masters und Johnson entwickelten, von Helen Kaplan und anderen modifizierten Übungen zurück. Dabei ist die von ihnen entwickelte perfekte Sexualphysiologie über weite Strecken erschreckend platt. Wer hätte das gedacht, daß sich bei einem Orgasmus Atem- und Pulsfrequenz erhöhen? Nun war es bewiesen: schwarz auf weiß!
Sexperten III: Sexualtherapeuten
Schmidt hat auf die seit den 70er Jahren einsetzende „manische Beschäftigung“ mit alltäglichen sexuellen Problemen hingewiesen:
Mit den Orgasmus- und Erregungsstörungen, Erektionsstörungen, der Lustlosigkeit etc. wurde energisch aufgeräumt. Die entsprechenden verhaltensorientierten Sexualtherapien hatten trotz aller liberalen Klientenfreundlichkeit (sexuelle Probleme wurden ernst genommen und behandelt) eine stark repressive Seite: Sexualwissenschaftler setzten den Rahmen für regelrechtes Sexualverhalten, vermittelten die optimale physiologische Reiztechnik, propagierten die Vorzüge einer fairen sexuellen Interaktion und brachten ihre Patienten dazu, sich zu fragen: „War die Erregungsphase zu lang, zu kurz, war sie gut koordiniert; war das Plateau auf gleichem Niveau, der Orgasmus richtig, intensiv, multipel, gemeinsam; die Entspannung danach tief, das Ganze spontan und echt?“
Ausgeklammert in diesen verhaltensorientierten Ansätzen bleibt die Erlebnisebene der Sexualität, die Welt der Bilder und Phantasien, die simple Wahrheit: Sexualität entsteht auch und vor allem im Kopf. Es scheint, daß uns über die Tiefendimension menschlicher Sexualität, die ja nicht nur eine physiologische, sondern auch eine emotionale Seite hat, Künstler mehr zu sagen haben, als die modernen Sexuologen.
Geschichte vom Herrn Mumpf
In Markus Werners Roman Froschnacht räsoniert ein vom Pastor zum Psychotherapeuten mutiertes Ich über seine Arbeit:
„Ich denke an Herrn Mumpf. Der war auch Zollbeamter. Und dem verdank ich einen Fingerzeig auf das bisweilen so bizarre Gepräge unserer Seele. Mumpf gibt es nicht und gab es nie. Mumpf ist nur ein fiktiver Zollbeamter, aber stämmig. Pechschwarzer, starker Schnauz
[…]
Frau Oberholzer stand im fünften Ehejahr. Und in der vierten Stunde sagte sie: Mein Mann küßt mich fast nie, und wenn, dann uneindringlich. – Hm, sage ich. Hingegen, sagt Frau Oberholzer, nimmt er mich jede Nacht. – So, sage ich, das ist ja eigentlich erfreulich, vorausgesetzt, daß es auch Ihnen Spaß macht. – Es macht mir große, große Freude, betont Frau Oberholzer und weint still vor sich hin. Nach einigen Minuten folgt stockend ein Bekenntnis: Und ich betrüg ihn schamlos, jede Nacht. – Das hieße also, daß sie jede Nacht intimen Umgang mit zwei Männern haben? – Ja und nein, sagt sie erwartungsvoll, als hoffe sie, daß ich nun selber auf die Lösung komme. Ich aber runzle nur die Stirn, und endlich sagt Frau Oberholzer trotzig: Ich brauche einfach einen Zollbeamten, ich käme ohne Mumpf niemals zum Höhepunkt. – Mumpf heißt er also, murmle ich, da mir im Augenblick nichts Klügeres einfällt. Ja, sagt sie eifrig, ich sag Herr Mumpf zu ihm, ich sieze ihn, er ist ein strenger Zollbeamter, immer in Uniform, am schönsten ist es, wenn er mich erwischt beim Schmuggeln, das macht ihn wild. Sie müssen aber wissen, daß Mumpf nicht wirklich existiert. – Aha, sag ich, das dacht ich mir, Sie stellen sich Herrn Mumpf nur vor, Sie phantasieren sich den Zollbeamten. – Leider, sagt sie. Mein Mann ist von Beruf Konditor, doch ich vergesse das, sobald das Licht gelöscht ist. Wenn ich es nicht vergesse, das heißt, wenn ich mir sage, es ist ja Ferdinand und nicht Herr Mumpf, vergeht mir sofort alle Lust, ich hab es oft genug probiert. – Gut, sage ich, und diese ganze Sache belastet Ihr Gewissen vermutlich stark? – Das ist es ja, sagt sie, aus diesem Grund muß Mumpf ja immer wieder kommen und mich strafen.
Ich breche ab hier. Ich muß ehrlich bekennen, daß dieses höchst vertrackte Triebschicksal mich überfordert, obwohl ich sonst für jeden komplizierten Fall so dankbar bin. Ich gab Frau Oberholzer weiter an einen Analytiker, der mir nach einem halben Jahr gestand, er habe lediglich erreicht, daß sie Herrn Mumpf nun duze.
Es ist ein weitherum bekanntes Phänomen, daß mit der Eheschließung die sexuelle Phantasie ins Kraut schießt. Was man so sehr begehrte, ist plötzlich plump und sperrig da und schnarcht womöglich. Die gegenseitige Verfügbarkeit verleidet rasch, doch die geschrumpfte Sehnsucht und die geprellte Phantasie regenerieren sich und schweifen über das hinaus, was sie einst sättigte und was jetzt gähnend auf dem Sofa sitzt. Die innereheliche Lösung des Problems besteht nun eben darin, den altbekannten Bettgefährten ein bißchen umzudichten, ihn für die fraglichen Minuten in einen anderen zu verwandeln, der nun, obgleich er ähnlich keucht, viel würziger erscheint. Daß dieser Kunstgriff manchen vor dem Ehebruch bewahrt, ist eigentlich ein Segen, und trotzdem wird er – dieser Kunstgriff – weit stärker tabuiert als der reale Seitensprung.
Ich könnte mir gut denken, daß auch Konditor Oberholzer seine Phantasien hat und sich für Augenblicke vorstellt, es seufze unter ihm Frau Zeberli, Besitzerin des Tea-Rooms nebenan und beste Kundin. Und das ergäbe dann die interessante Konstellation Mumpf-Zeberli, sehr irreal und also sehr poetisch, man darf wahrscheinlich sogar sagen, daß diese gegenseitigen Verwandlungen es sind, die jeder Ehe etwas Märchenhaftes geben.“
Abgesehen vom humoristischen Aspekt dieser Geschichte – und Humor scheint ja dem Sexuellen auch näher zu sein als nüchterner Forscherdrang – macht sie jene Ebene deutlich, ohne die menschliche Sexualität nicht denkbar ist: die Ebene der Phantasien, Ängste, Sehnsüchte, der Wünsche und Verbote, der Normen und Grenzüberschreitungen.
Spätestens hier zeigt sich die andere Seite der Sexualität: die ganz persönliche, subjektive, in der jeweiligen Lebensgeschichte verhaftete. Die Normen der umgebenden Gesellschaft prägen zwar, doch ist die Welt des Kleinkindes, des/der Fünfjährigen, des/der Pubertierenden eine von konkreten Menschen gestaltete, vermittelte und belebte Welt. Sexualität hat nicht nur eine sozialhistorische, sondern auch eine zutiefst persönliche Geschichte.
Sperrigkeit und Prägnanz psychoanalytischer Theorie
Die Psychoanalyse hat diesen Umstand als erste Disziplin wissenschaftlich erhellt und ist dabei – anders als die akademische Psychologie – vor den notwendigerweise subjektiven Befunden ihrer Forschungsmethode nicht zurückgescheut. An ihren Ergebnissen schieden sich von Anfang an die Geister.
Heute wird die Psychoanalyse von manchen Kritikern mit Vorliebe als Kind einer beschränkten, puritanischen Zeit denunziert, längst überholt durch moderne wissenschaftliche Erkenntnisse.
Gerade diese Sichtweise ist verfänglich. Ein Wesen modernen Denkens ist auch, daß Ergebnisse stromlinienförmig, angepaßt, zeitgeistig, schick und einleuchtend ausfallen müssen und daß überall schnelle Lösungen hoch im Kurs stehen. Der Ausstoß an zeitgeistiger psychologischer Literatur, die den einfachen Empfindungen des „gesunden Menschenverstandes“ schmeichelt ist quantitativ beachtlich, qualitativ aber erbärmlich; in immer schnellerem Wechsel blühen neue Therapieformen auf und verblühen rasch wieder. Dem Sperrigen nachgehen, das Schwierige zu denken, die Widersprüche auszuhalten, all das ist weder schick noch „in“.
Das moderne zeitgeistige Denken dreht sich in erschreckender Redundanz im Kreis, schmort trotz immer neuer Aufgüsse im selben seichten Saft und vieles, was rasch aufpoliert glänzt, kommt nicht entfernt an die denkerischen Leistungen heran, die etwa das Fin de Siecle ausmachten.
Soziale Amnesie nennt Russell Jacoby4 das Phänomen moderner Weltsicht, wonach das Letzte und Neueste auch das Beste und Tiefschürfendste sei. Dem ist nicht so. Trotz einer Unmenge von sexualtherapeutischer Literatur, von Ratgebern und Rat-Schlägern, sind diese Produkte erstaunlich flach. So wird man etwa in der gesamten Literatur über funktionelle Sexualstörungen kaum einen Beitrag finden, der mit mehr Tiefgang Über ejaculatio praecox informiert als es der gleichnamige Aufsatz des Berliner Psychoanalytikers Karl Abraham aus dem Jahr 1917 vermag.
Sexualität: Die gefährlichste Betätigung des Individuums
Das Sexuelle wird in der Psychoanalyse umfassend verstanden und nicht verharmlost.
Eine gängige aber naive Sicht der menschlichen Sexualität scheint mir die folgende zu sein: Wenn nur in der Erziehung keine Fehler gemacht und die kindliche Sexualität nicht tabuiert wäre, es zu ausreichender Sexualaufklärung in Schulen, Elternhäuser und Jugendklubs käme, für eventuelle Probleme Sexualtherapeuten oder Sex-Hotlines zur Verfügung ständen und man über sexuelle Probleme offen redete, etc…, dann gäbe es ein goldenes Zeitalter ohne Probleme im sexuellen Bereich.
Diese naive Sichtweise verharmlost das Sexuelle, denn Sexualität als Knotenpunkt zwischen Körperlichem und Seelischem, zwischen Trieb und Verbot, zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, zwischen Ersehntem und Realisierbarem, ist immer konflikthaft.
Freud nannte die Sexualität die „gefährlichste Betätigung“ des Individuums und dies ist nicht als neuer moralischer Zeigefinger zu verstehen, sondern als Hinweis auf das Gefüge von Ängsten und phantasierten Gefahren, in die das Sexuelle eingenistet ist.
Wie Schmidt zeigte spiegelt sich in der Sexualität die Bedürfnisgeschichte (gab es genügend Nahrung, Befriedigung, Zuwendung, oder zuviel Versagung und ungestillten Hunger?), die Beziehungsgeschichte (war es in den Primärbeziehungen erlaubt, autonom zu werden, oder bestanden sie aus Vereinnahmung?) und die Geschichte der Geschlechtsidentität (erlebt mann/frau sich in seiner/ihrer Geschlechtszugehörigkeit sicher oder unsicher?) eines Menschen.
Es gibt keine Sexualität
Wenn immer eine sexuelle Begegnung nicht nur abgewehrt an der Oberfläche knistert, sondern unter die Haut geht, kommt es zur Begegnung mit mehr oder weniger traumatischen, mehr oder weniger bewältigten, integrierten Erfahrungen aus der eigenen Lebensgeschichte.
Da Sexualität als umfassendes Geschehen Körper, Psyche, Geschichte, Bedürfnisse, Beziehungen und Identität eines Menschen ausmacht, ist die Konzeption einer auf das Funktionieren der Sexualorgane reduzierten Sexualität ein Nonsens. Jede Psychotherapie ist auch eine Sexualität oder sie ist gar keine Therapie. Jede Therapie, die von einem eingeschränkten sexuellen Problem ausgeht, hat auch andere Aspekte menschlicher Sexualität (z.B. Elternbeziehungen, Über-Ich-Inhalte, Partnerwahlmechanismen) zu berücksichtigen. Immerhin prallen die Trieb- und Abwehrstrukturen mehrerer Generationen aufeinander, wenn zwei Menschen einander leidenschaftlich lieben. Situative Momente (z.B. die Lebens-, Wohn- und Arbeitssituation, das Vorhandensein von Kindern, ihr Alter), unbewußt gewordene Traumatisierungen, aktuelle Konflikte in Partnerschaften, all das beeinflußt die (Symptom)Sprache der Sexualität bzw. ihr Schweigen.
Missverständnisse rund um das Wort Sexualberatungsstelle
Eine Sexualberatungsstelle zu gründen und zu betreiben heißt natürlich, die sexuellen Probleme und Nöte von Ratsuchenden ernst zu nehmen und mit ihnen Lösungen, Veränderungen und Alternativen zu suchen.
Die Herangehensweise muß sich jedoch notwendigerweise von einer falsch verstandenen sexuellen Libertinage und einem Problemvoyeurismus und -exhibitionismus unterscheiden, wie ihn Zeitgeistmagazine, Beratungsspalten und Sex-Hotlines betreiben. Die Sensationstitel a la Basta und Wiener – die eine Art „Nackerte von der Seite 5“ aufgemascherlt für die Yuppie-Generation sind – verraten über Sexualität und Sexuelles nichts, aber viel über die allerorts fehlende und nicht verwirklichbare Liebes- und Genußfähigkeit.
So manche verwechselten unsere Einrichtung mit einer Art stationärer Sex-Hotline und übersahen, daß ein derart medial betriebener Exhibitionismus und Voyeurismus sich nicht verträgt mit geduldigem und verschwiegenem Einlassen auf Persönliches und Intimes. Aufgrund falscher Assoziationen werden manchmal magische Heilserwartungen an uns herangetragen. Auch wenn der Trägerverein Werkstatt für Gesellschafts- und Psychoanalyse heißt, sind wir keine Reparaturwerkstätte für müde gewordene oder widerspenstige Sexualorgane. Auch von Zauberei verstehen wir nichts. Manchmal ist es mühevoll, der Ungeduld von Ratsuchenden die Realität entgegenzuhalten: Sexualität funktioniert nicht auf Knopfdruck. Ihr Versagen hat vielmehr oft damit zu tun, daß in der „Schönen neuen Welt“ allzuviel immer auf Knopfdruck funktionieren muß. Das Sexuelle gebärdet sich mit Vorliebe subversiv. Schwerarbeit ist oft auch die Vermittlung einer Sichtweise, daß sich in (sexuellen) Symptomen manchmal die gesündesten Anteile einer entfremdeten Psyche verbergen; daß Symptome ihren Sinn haben und es gilt, dafür eine Sprache zu finden, statt mit Erektionsspritzen und Gleitmittel ein reibungsloses Funktionieren zu erzwingen.
Lokale Ärgernisse
Eine Sexualberatungsstelle in Salzburg zu gründen und zu betreiben war ein Wagnis und ein Ärgernis. Wir hätten es uns leichter machen können, wenn wir sie Partnerberatung genannt hätten, oder so ähnlich.
Vom Land Salzburg jahrelang mißtrauisch beäugt und aktiv behindert, von Unbekannten als Abtreibungsberatungsstelle diffamiert und in gezielten Briefkampagnen – immer dann wenn wir um Subventionen ansuchten – verleumdet, vom Familienministerium lange Zeit nicht ernst genommen („wir sind für Familien zuständig, nicht für Sexualität“, so ein hoher Beamter wörtlich bei einer Unterredung), und mehrmals aufgefordert, wir sollten uns doch umbenennen, dann fiele die Finanzierung leichter… haben wir uns dennoch nicht beirren lassen.
Oft kam die Frage auch aus dem nächsten Bekanntenkreis: „Ja kommt denn da überhaupt wer zu euch?“ Und ich bin mir sicher, daß diese Frage unausgesprochen noch viel öfter im Raum stand. Dahinter dürften sich verschiedene Überlegungen verstecken:
- „Sexualberatung“, das ist zu direkt, eine ideologische Schnapsidee, das schreckt ab, macht mißtrauisch, schürt falsche Erwartungen.
- Wer sexuelle Probleme hat, ist zu schüchtern um diese direkt anzugehen.
- Es gäbe ohnehin eine hohe Schwellenangst, einen Psychologen, einen Psychotherapeuten, eine Beratungsstelle aufzusuchen – noch schwieriger ist es, zu einer Sexualberatungsstelle zu gehen.
- Der Name fördert die Vorstellung von Trainingsprogrammen à la Masters & Johnson, von technischen Übungen usw.
Dem ist entgegenzuhalten: wie die Statistik zeigt, ist die Inanspruchnahme der Sexualberatungsstelle enorm, hat selbst unsere Erwartungen übertroffen und wir sind in unserer Arbeit – die derzeit auf der Basis von fünf Halbtagsanstellungen stattfindet – völlig ausgelastet, obwohl wir schon längere Zeit keine Werbung betreiben.
Ein Trend in modernen Gesellschaften
Vielleicht mag die folgende Untersuchung erklären, warum das so ist und daß Salzburg hier nur einem gesamtgesellschaftlichen, westlichen Trend entspricht:
Im Jahr 1976 führte die Abteilung für Sexualforschung der Psychiatrischen Universitätsklinik Hamburg eine Bedarfsanalyse über die ärztliche/psychotherapeutische Versorgung von Patienten mit sexuellen Störungen durch. Die Untersuchung hatte zum Ergebnis, daß in Hamburg pro Woche mindestens 1100 Patienten einen Arzt wegen einer sexuellen Störung aufsuchten. 90% von ihnen litten an einer sexuellen Funktionsstörung. Jene Patienten, die die Poliklinik der Abteilung für Sexualforschung in Anspruch nahmen, waren durchschnittlich schon seit 4 Jahren bei 2–3 Ärzten in erfolgloser medikamentöser Behandlung, wobei die sinnlose Verabreichung von Psychopharmaka und Hormonpräparaten häufig zu schweren Chronifizierungen ihrer Störungen geführt hatte.5
Praktische Ärzte, Urologen, Gynäkologen, Psychiater und Neurologen sind nach wie vor die erste Anlaufstelle für Patienten mit sexuellen Störungen. Zunehmend werden auch psychologische Beratungsstellen in Anspruch genommen. Familien-, Paar- und Sexualberater werden immer häufiger mit den Problemen sexueller Funktionsstörungen und deren Auswirkungen auf Partnerschaften konfrontiert.
Die Gründe für diesen Trend
Seit den 60er Jahren haben sich auf dem Hintergrund der Ausgestaltung der Konsumgesellschaft und einer ihr konformen Liberalisierung sexueller Normen auch die sexuellen Störungen geändert. Klagten Ratsuchende bis dahin über beunruhigende sexuelle Wünsche und zu starke Spannungen, so leiden sie heute primär an einem zuwenig an Triebspannung, an Lustlosigkeit, Erregungsstörungen und Insuffizienzgefühlen.
Partnerschaften sind zudem durch sexuelle Probleme störbarer und verletzbarer geworden. Ehen und Familien haben im Zuge der sozialen Veränderungen des letzten Jahrhunderts weitgehend ihre Produktions- und Versorgungsaufgaben eingebüßt. Für die Stabilität von Beziehungen und Partnerschaften haben sexuelle und emotionale Erfüllung an Bedeutung gewonnen. Tauchen sexuelle Schwierigkeiten auf, kommt es heute schneller zu massiven Trennungs- und Verlustängsten. Diese Ängste sind real begründet, weil zunehmend mehr Männer und vor allem auch Frauen auf „ihr Recht“ auf sexuelle Befriedigung pochen und rascher bereit sind, Beziehungen zugunsten dieses Zieles zu opfern.
Die gesellschaftlichen Trends im Auge zu behalten, mag davor bewahren, blind und sinnlos dahinzutherapieren. Wieder handelt es sich um eine äußerst sensible Gratwanderung:
Daß Menschen ihre Sexualität ernst nehmen und einfordern, ihr Leiden beenden und ihre Sehnsucht stillen wollen, ist verständlich. Wer Hilfe sucht, darf nicht abgewiesen werden.
Der Kompensationscharakter, den Sexualität am Ende des zweiten Jahrtausends annimmt, darf aber auch in Frage gestellt werden. Oft ist eine Desillusionierung die Voraussetzung für realistische Glückserfahrungen. Eine Gesellschaft, die Wohnungsnot, Verkehrslawinen, Baumsterben, neue Armut und neue Kälte gebiert, läßt sich durch intensiv erlebte Sexualität allein nicht erwärmen.
Literatur
- MORGENTHALER, Fritz: Homosexualität, Heterosexualität, Perversion. Frankfurt/M 1987.
- SCHMIDT, Gunter: Das große DER DIE DAS. Über das Sexuelle. Reinbek b.H. 1986/1988. rororo Sachbuch 8459. Im folgenden werde ich immer wieder auf Gedanken Schmidts zurückkommen, ohne im Einzelnen darauf zu verweisen.
- KINSEY, : Das sexuelle Verhalten des Mannes. USA 1948, BRD 1955. KINSEY, : Das sexuelle Verhalten der Frau. USA 1953, BRD 1954.
- JACOBY, Russell: Soziale Amnesie. Eine Kritik der konformistischen Psychologie von Adler bis Laing. Frankfurt/M. 1978.
- Vgl. ARENTEWICZ, G. und SCHMIDT, G.: Sexuell gestörte Beziehungen. Konzept und Technik der Paartherapie. Berlin